Das Canon RF 600 F11 – ein alternativloser Kompromiss

30. August 2021
von Akki Moto
2 Kommentare

R bedeute »Revolution«, hat Canon bei der Vorstellung der neuen RF-Serie gesagt. Und in Verbindung mit dem R-System kamen einige Objektive hinzu, die es in der Welt der Spiegelreflexkameras nicht gab. Dazu gehören das RF 28–70 2.0L USM, das trotz fehlendem Bildstabilisator im Objektiv mit dem IBIS der R5/R6 immerhin acht Blendenstufen Stabilisierung schafft, aber auch das Canon RF 600 F11 IS STM und das RF 800 F11 IS STM, die mit einem für Supertele-Objektive bisher unbekannten Preis-Leistungs-Größen-Verhältnis aufwarten.

Wann gab es das schon einmal: ein Objektiv mit 600 mm Brennweite, unter einem Kilogramm Gewicht (exakt: 930 Gramm), mit einer Länge von unter 20 cm (exakt: 19,95 cm) für weniger als 1.000 Euro (exakt: 799 Euro – und in Verbindung mit dem Kauf einer Kamera im Canon-Fachhandel kann man mit der Aktion EOS+X sogar noch einmal 100 Euro sparen)?

Ehrlicherweise muss man dazusagen, dass beim Canon RF 600 F11 und RF 800 F11 die Streulichtblende extra dazugekauft werden muss (wie bisher auch bei allen Objektiven, die nicht zur L-Serie gehören). Canon ruft dafür den stolzen Preis von 49 Euro auf. Wie von Canon gewohnt passt die Streulichtblende perfekt, rote Markierungen zeigen (im Gegensatz zu den rückwärtigen Objektivdeckeln) an, wo die Blende aufgesetzt werden muss. Die Streulichtblende rastet gut ein, und man muss einen Taster an der Blende drücken, um diese wieder abnehmen zu können. Die Streulichtblende ist sehr schmal und nimmt auch im Transportzustand (umgedreht aufgesetzt) seitlich kaum Platz ein. Mittlerweile gibt es erste Alternativangebote zum halben Preis. Mit dem attraktiven Preis des RF 600 F11 und des RF 800 F11 werden 600 und 800 mm für ein größeres Publikum erschwinglich (nein, Objektive jenseits von 5000 Euro sind für viele Hobbyfotografen nun mal keine Alternative), und die Baugröße und das Gewicht sorgen dafür, dass auch Reisefotografen wie ich dieses ­Objektiv immer dabeihaben können. 600 mm in der City gibt dem Fotografen die Möglichkeit, ganz andere Perspektiven einer Stadt zu entdecken.

Natürlich hat dieser Kompromiss aus Preis, ­Leistung und Bauform auch Nachteile – wie die feste ­Blende von F11 und die große Naheinstellgrenze von 4,5 m beim RF 600 und 6 m beim RF 800. Die am wenigsten kompromissbehaftete Alternative scheint mir das RF ­100–500 4.5–7.1 L IS USM zu sein. Es ist mit 3.099 Euro zwar deutlich teurer und mit 1.530 g auch spürbar schwerer; dank 20,8 cm Länge passt aber auch dieses Objektiv aufrecht in fast jede Fototasche.
Es hat eine Naheinstellgrenze von 1,2 m bei 500 mm und den schnelleren USM-Motor. Neu vorgestellt hat Canon ein RF 600 4L IS USM, das sich durch einen Preis von 13.999 Euro zwar dem direkten Vergleich entzieht, der Vollständigkeit halber aber hier erwähnt werden soll. Nachfolgend möchte ich auf einige Aspekte des RF 600 F11 und RF 800 F11 eingehen. Dabei geht es nicht darum, den Kompromiss (z. B. Offenblende f/11) kleinzureden, sondern darum, Wege aufzuzeigen, wie man mit diesem Kompromiss umgehen kann. Wer das Geld hat, darf getrost zum RF 100–500 greifen. Für die anderen sind das RF 600 F11 und das RF 800 F11 eine gute, preiswerte Alternative in diesem Brennweitenbereich, denn das beste Objektiv ist immer das, was man dabeihat.

Blende 11 – zu wenig Licht?

1/60 s Belichtungszeit und ISO 102.400 gehen zur Not auch: R6 mit dem RF 600 F11 freihand

»Offenblende f/11 – das geht doch gar nicht«, konnte man von den Kritikern der Objektive vernehmen. Geht man davon aus, dass ein EF 600 4L (derzeit um die 9.000 Euro zu haben) und das angekündigte RF 600 4L schon preislich keine Alternative für viele Hobbyfotografen darstellen, kann man den Vergleich zum nächstgelegenen L-Objektiv vornehmen, dem RF 100–500 4.5–7.1 L IS USM. Das RF 100–500 hat bei 500 mm eine Offenblende von f/7.1, das sind »nur« 1,33 (1 1/3) Blendenstufen (eine Blendenstufe ist die Verdoppelung bzw. Halbierung der Lichtmenge, die auf den Sensor trifft) heller als die Blende f/11 des RF 600 F11.

Als probates Gegenmittel im Belichtungsdreieck Blende/ISO/Belichtungszeit kann der ISO-Wert erhöht werden. Hat man bei Blende f/7.1 am RF 100–500 mit ISO 800 fotografiert, müsste man bei gleicher Belichtungszeit mit dem RF 600 F11 ISO 2000 benutzen. Höhere ISO-Werte sind an den RF-Kameras (die derzeit ja alle über einen Vollformatsensor verfügen), aber insbesondere mit der Canon R6 nicht wirklich ein Problem.

Alternativ kann die Belichtungszeit verlängert werden. Vom Stativ ist die Belichtungszeit ja nicht so ein Thema, da nimmt man bei einer Blendenstufe statt 1/1.000 s dann eine 1/500 s. Fotografiert man freihand, ist die Belichtungszeit auch vom eingebauten Bildstabilisator im Objektiv abhängig. Während gängige EF-Teleobjektive einen Bildstabilisator haben, der bis zu vier Blendenstufen stabilisieren kann, geht das beim RF 600 F11 bis zu fünf Blendenstufen, beim RF 800 F11 ebenfalls bis zu vier Blendenstufen. Beide Objektive verfügen auch über einen Bildstabilisator-Modus 2 für Mitzieher. Ein Schalter dafür ist nicht vorhanden, ­vielmehr erkennt das Objektiv die Mitzieherbewegung und schaltet selbstständig auf den Modus 2 um. Wie man diese automatische Umschaltung effektiv benutzt, dazu – und zu weiteren Aspekten der Benutzung des Bildstabilisators im RF-System – wird es einen Beitrag in einer der nächsten fotoespresso-Ausgaben geben. Aufgrund der Brennweite arbeiten beide Objektive an den Canon-Kameras mit IBIS (R5/R6) nicht mit dem koordinierten Bildstabilisator. Es bleibt also bei den Stabilisierungsmöglichkeiten des Objektivs selbst.
Früher gab es die Regel »Belichtungszeit = 1/Brennweite«. Heute richtet sich die Belichtungszeit eher nach der Eigenbewegung des Motivs und der ruhigen Hand des Fotografen. So können auch Aufnahmen mit 1/25 s freihand bei 600 mm gelingen (und noch längere Belichtungszeiten). 1/200 s dürfte für die meisten Fotografen kein Problem sein. Um auf unseren Vergleich mit dem RF 100–500 zurückzukommen: 1/640 s am RF 100–500 wären dann 1/250 s am RF 600/800 F11.

Letztlich wird man wohl in der Praxis sowohl die ISO leicht erhöhen als auch die Belichtungszeit verlängern. Viele schöne Bilder, die Fotografen im Internet dazu vorstellen, zeigen uns, wie gut das funktioniert.

Blende 11 – keine Freistellung möglich?

Die Blende ist nur ein Faktor zur Festlegung der Schärfentiefe. Natürlich hat die Blende einen Einfluss darauf; dazu kommen aber auch Sensorgröße (hier immer Vollformat, da wir ja über das RF 600 F11 reden), der Abstand des Fotografen zum Motiv, der Abstand vom Motiv zum Hintergrund und die Brennweite. Ich selbst habe einige Objektive mit Offenblende f/4 (weil diese Objektive auf Reisen leichter sind) und bin ein Freund davon, die Freistellung durch die Bewegung des Fotografen zu erreichen. Je dichter ich am Motiv dran bin und je weiter der Hintergrund vom Motiv weg ist, ­desto besser ist die Freistellung. Dabei ist es (fast) egal, ob ich an das Motiv rangehe oder ranzoome. Und 600 mm ist ja schon eine mächtig lange Brennweite. Bei 4,5 m Abstand habe ich mit dem RF 600 F11 nur 3,1 cm Schärfentiefe, bei 10 m Abstand sind es 16,6 cm. Und selbst bei Verwendung eines 2x-Konverters am RF 800 F11 (was eine Brennweite von 1600 mm ergibt) bei Blende 22 ist eine Freistellung möglich.

Freistellung mit Blende f/22 bei 1600 mm Brennweite (Model: @kira_mln)

Wenn man beginnt, mit langen Brennweiten zu fotografieren, fehlen Erfahrungswerte, wann eine Freistellung möglich ist. Sucht man im Internet nach »DoF Calculator« (DoF = Depth of Field), findet man viele ­Online-Schärfentiefe-Rechner, und es gibt auch etliche Apps für die verschiedenen mobilen Geräte.

Die Blende f/11 des RF 600/800 F11 ist nicht nur die Offenblende dieser Objektive, nein, auch ein weiteres Abblenden ist mit den Objektiven allein nicht möglich. Es handelt sich also um eine feste Blende, die sich aus der Konstruktion ergibt. Diese ist, da es keine Blendenlamellen gibt, kreisrund, was sich positiv auf das Bokeh auswirkt.

Blende 11 – da geht doch kein Autofokus?

Sogar der Augen-AF funktioniert.

Der Autofokus des Dual-Pixel-AF-Systems braucht Licht und Strukturen. Hier sind das RF 600 F11 und das RF 800 F11 mit ihrer festen Blende f/11 gegenüber anderen Objektiven benachteiligt. Trotzdem funktioniert der Autofokus auch bei nicht ganz optimalen Lichtbedingungen (wie auf dem Bild mit meinem Bürobär) recht gut – sogar der Augen-Autofokus.

Aktuelle Firmware für die Canon R6, das RF 600 F11 und den RF-1.4x-Extender

Deutlichere Einschränkungen gibt es hier erst bei der Verwendung des 2x-RF-Extenders, da dann mit Blende f/22 fotografiert werden muss. Ein Fokusfeld muss innerhalb des größeren weißen Rahmens liegen. Meine Erfahrung ist, dass auch dann noch fokussiert wird, wenn das Fokusfeld direkt auf dem Rahmen liegt. Bei weiter entfernten Motiven (beim RF 600 F11 mehr als 12 m, beim RF 800 F11 mehr als 20 m) ist es hilfreich, am Objektiv den Auswahlschalter für den Fokussierbereich zu betätigen, damit die Kamera nicht im gesamten Bereich den Autofokus finden muss.
Halten Sie bitte die Firmware aller beteiligten Komponenten (Kamera, Objektiv, Extender) aktuell. Die Firmware aller Komponenten können Sie über die Kamera aktualisieren. So ist Anfang April eine neue Firmware für die Canon-Kameras R5 und R6 erschienen, die auch im Servo-Modus den manuellen Eingriff in die ­Fokussierung bei bestimmten Objektiven gestattet. So können Sie es der Kamera bei widrigen Aufnahmebedingungen (wenig Licht, Motiv hinter Blattwerk) durch Vorfokussierung auf den gewünschten Entfernungsbereich leichter machen, per Autofokus das Motiv zu finden.

Malte fotografiert geschützt vor Wind, Wetter und Corona, die EOS R6, das RF 600 und den RF 2x Extender hat er dabei.

Fazit zum Canon RF 600 F11

Sowohl das RF 600 F11 als auch das RF 800 F11 sind leicht – viel leichter, als ich erwartet hatte. Die Bilder zeichnen sich durch eine sehr gute Bildqualität aus. Die Objektive haben einen attraktiven Preis, der sie auch für Hobbyfotografen erschwinglich macht. Das RF 600 F11 ist zusätzlich noch sehr kompakt im Packmaß und kann in jeder Fototasche dabei sein. Für mich ist daher das RF 600 F11 ganz klar der Preis-Leistungs-Sieger.

Kann man etwas mehr Geld ausgeben, sollte man sich unbedingt das RF 100–500 (ggf. zusätzlich mit einem RF-1.4-Extender) anschauen. Dieses Objektiv ist aus meiner Sicht die kompromissärmste Lösung. Und natürlich können die Profis auch einen Blick auf das RF 600 4L IS USM werfen.

Welches ist nun besser, das RF 600 F11 oder das RF 800 F11? Das kommt ganz drauf an, welche Motive man hat. Grundsätzlich sollte sich aber jeder Fotograf, der sich erstmals ein Objektiv im Brennweitenbereich jenseits der 400 mm anschaffen möchte, mit den Themen Brennweite, Motivabstand und Fotografieren von weit entfernten Motiven (Luftunruhe, Dunst) beschäftigen. Weil dies den Rahmen des vorliegenden Beitrages sprengen würde, berichte ich über dieses Thema und ganz speziell auch über die beiden RF-Extender (1,4 und 2,0) in folgendem Beitrag darüber: Lange Brennweiten und Canons RF-Extender

Kleiner Tipp: Ich habe mir als erstes Objektiv mit großer Brennweite ein altes gebrauchtes Beroflex 500 für 80 Euro gekauft. Das war gut, um sich mit der Brennweite vertraut zu machen und festzustellen, ob man mehr oder weniger Brennweite braucht.

Transparenzhinweis: Das Canon RF 600 F11 habe ich gekauft. Das RF 800 F11 und die beiden RF-Extender wurden mir freundlicherweise vom Canon-Shop ­Achatzi zur Verfügung gestellt.

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2 Kommentare:
  1. Hallo Akki,
    ich bin immer noch am studieren mit den Brennweiten.
    Jetzt meine Frage, was meinst du mit
    „ am Objektiv den Auswahlschalter für den Fokussierbereich“
    Grüssle
    Anita

    1. Hallo Anita,

      am RF 600 F11 IS STM hat der obere Schalter am Objektiv die Auswahlmöglichkeiten:
      – FULL bzw.
      – 12 m – unendlich
      Stellt man auf FULL, wird der Autofokus im gesamten fokussierbaren Bereich gesucht (hier 4,5 m – unendlich). Stellt man auf 12 m – unendlich wird der Fokus im Bereich von 4,5 m – 12 m NICHT mehr gesucht. Der Bereich der Suche wird kleiner und das kann Geschwindigkeitsvorteile haben.

      Liebe Grüße
      Akki

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