Starthilfe
oder: Vorbelichtung von Negativen hilft den Schatten auf die Sprünge
Zusammenfassung: |
Sie kennen die Situation:
Sie stehen in der Landschaft vor Ihrem Lieblingsmotiv in der Sonne und müssen
feststellen, dass zwischen den bildwichtigen Lichtern und Schatten acht oder
sogar noch mehr Blendenstufen liegen. Am Morgen war es noch so schön dunstig
gewesen, und auf dem Film sind noch einige wunderschöne, aber eben kontrastarme
Nebelaufnahmen, so dass Sie nicht einfach den ganzen Film verkürzt entwickeln
können, was Sie vielleicht sonst tun würden, um die Lichter noch "im
Rahmen" zu halten. Was tun? Lichter- oder Schattenzeichnung opfern? Auf
die Mitte halten und Einbußen bei beiden hinnehmen?
(Übrigens: Auch wenn die Einleitung weitgehend auf die Belange von KB-Fotografen
abzielt, kann man das beschriebene Verfahren vorteilhaft auch bei Mittel- und
Großformat einsetzen.)
Da liegt der Hase im Pfeffer!
Ein Papierbild kann einen
Helligkeitsumfang von rund 1:100, entsprechend etwa sieben Blendenstufen (1:128)
wiedergeben. Ein Negativ kann durchaus einen größeren Belichtungsumfang
einfangen, aber es bedarf einiger Kunstgriffe in der Dunkelkammer, diesen so
aufs Papier zu bringen, dass er in die besagten 1:100 hineinpasst.
Dabei erstreckt sich der Spielraum eigentlich nur in den Lichterbereich, denn
etwas zu dicht geratenen Lichter können Sie durch Nachbelichten zu Zeichnung
verhelfen, aber Schatten, die im Negativ keine Zeichnung haben, sind auch durch
Tricks nicht zu retten.
Setzen wir als Nullpunkt die für eine Aufnahme gewählte Kombination
von Verschlusszeit und Blende an, so wird all das im Positiv ohne weitere Manipulationen
mit voller Zeichnung wiedergegeben, was innerhalb eines Bereichs von zwei Blendenstufen
darunter bis drei Blendenstufen darüber liegt.
Drei Blenden nach unten bedeuten, dass Sie vielleicht noch einen Grauwert hinbekommen,
der eben nicht volles Schwarz ist, aber von Zeichnung kann man nicht mehr reden.
Vier Blenden nach oben bedeuten analog, dass die entsprechende Stelle im Positiv
gerade eben von Papierweiß zu unterscheiden ist. Das können Sie mit
Nachbelichten i. d. R. noch retten, aber irgendwo ist auch damit Schluss.
Dieser Unterschied im Verhalten der Lichter und der Schatten liegt darin begründet,
dass Filme bei Belichtung unterhalb einer Schwelle schlicht und einfach gar
keine verwertbare Schwärzung liefern. Oberhalb der Schwelle folgt ein recht
langer geradliniger Bereich, indem eine Belichtungszugabe von einer Blende immer
denselben Zuwachs an Dichte erbringt. Bei ganz starken Belichtungen schließlich
folgt ein Bereich, indem dieselbe Zugabe (1 Blende) schließlich zu immer
weniger Zuwachs an Dichte führt, und irgendwann ist alles Silber in der
Emulsion belichtet, d. h. Sie können dem Film soviel Licht gönnen,
wie Sie möchten, schwärzer kann er nicht mehr werden.
Dieses Verhalten des Films wird durch die Schwärzungskurve der Film/Entwickler-Kombination
veranschaulicht. Eine Schwärzungskurve sollten Sie so lesen: Wo sie steil
ist, werden leicht von einander abweichende Grauwerte gut differenziert. Wo
sie hingegen abflacht (im Anfangsbereich, dem Kurvenfuss, und nach dem geradlinigen
Bereich, in der Kurvenschulter), werden die Werte nicht so deutlich differenziert.
Die konkrete Form der Kurve hängt sehr von der gewählten Kombination
von Film und Entwickler ab. Bei vielen Kombinationen moderner Filme und Entwickler
ist der geradlinige Bereich sehr lang, so lang, dass er bestimmend für
die Grauwertwiedergabe ist. Sog. Ausgleichsentwickler, z. B. Tetenals Emofin,
oder Neofin Doku, dass zur windelweichen Entwicklung von Dokumentenfilmen dient,
biegen die Kurve oben ab, so dass die Lichter auf Kosten einer geringeren Differenzierung
länger im Bereich verwertbarer Dichten bleiben. Dem kommt entgegen, dass
das menschliche Auge winzige Unterschiede in den Lichtern besser unterscheiden
kann als in den Schatten.
Doch zurück zu unserem Problem: Die Tatsache, dass Film unterhalb einer
gewissen Belichtung keine Schwärzung liefert, heißt nicht, dass mit
dem Film nichts passiert. Er erinnert sich daran, dass er dort schon "Licht
gesehen" hat, aber wenn sonst nichts passiert, führt das nicht zu
entwickelbaren Latentbildkeimen. Wenn wir dem Film aber zusätzlich zu der
unterschwelligen Vorbelichtung noch ein bisschen mehr Licht gönnen, kann
uns dieses Verhalten helfen, die Schatten zu retten, ohne die Lichter dadurch
in den Bereich jenseits von Gut und Böse zu schieben.
Das Kochrezept
Schritt 1: Messung/Interpretation
Wir messen das Motiv mittels eines Spotmeters (handgehalten oder in der Kamera,
zur Not auch Nahmessung mit normalen Belichtungsmesser) aus. Nehmen wir an,
wir messen
in den tiefsten Schatten, die noch Zeichnung haben
sollen: Bl. 2,8, 1/250 s und
in den hellsten Lichtern, die noch Zeichnung haben
sollen: Bl. 32, 1/250 s.
Eine Kontrollmessung ergibt, dass der mittlere Grauwert bei Bl. 8, 1/250 s liegt.
In einem solchen Fall sollte es mit etwas Geschick möglich sein, die Lichter
in der Dunkelkammer durch Nachbelichten zu retten, vorausgesetzt sie sind nicht
zu ungünstig über das Bild verteilt. Gehen wir aber für den Moment
einmal davon aus, dass die Lichter entweder eine kompliziert berandete Fläche
bilden oder über das ganze Bild verteilt sind und daher keine Nachbelichtung
in Frage kommt. Also...
Schritt 2: Vorbelichtung
Wir schalten unsere Kamera auf Doppelbelichtung, stellen auf Unendlich scharf
und setzen einen Diffusor (keinen Weichzeichner, sondern eine echte Streuscheibe)
vor das Objektiv. Durch diesen hindurch messen wir erneut die Belichtung und
stellen einen Wert ein, der einer Unterbelichtung um drei Blendenstufen entspricht.
Konkretes Beispiel: Wir messen Bl. 4, 1/250 s und stellen Bl. 11, 1/250 s ein.
Mit dieser Einstellung belichten wir das Negativ durch den Diffusor. Dann entfernen
wir den Diffusor und gehen über zu Schritt 3.
Alternativ kann man, wenn man keinen Diffusor zur Hand hat, auch eine einheitlich
helle Fläche suchen (z. B. Graukarte, Himmel, Wand) und diese unscharf
und um drei Blenden unterbelichtet aufnehmen. Das Ergebnis ist dasselbe, nur
muss man bei dieser Fläche sehr darauf achten, dass sie auch wirklich einheitlich
hell ist, also nicht etwa einen deutlichen Lichtabfall aufweist. Nach dieser
Vorbelichtung richten wir die Kamera wieder auf unser eigentliches Motiv. Es
folgt Schritt 3.
Schritt 3: Die eigentliche Aufnahme
Jetzt stellen wir an der Kamera die anfangs gemessene Bl. 8, 1/250 s ein, bei
der die Schatten ohne Zeichnung abgebildet würden, und machen unsere Aufnahme.
Die Früchte der
Arbeit
Als Ergebnis haben wir ein Negativ erzeugt, in dem im Vergleich zum nicht vorbelichteten
Negativ vom selben Motiv die Schatten wesentlich besser durchgezeichnet sind,
die Mitteltöne nur wenig angehoben und komprimiert sind und die Lichter
praktisch unverändert geblieben sind.
Mit verkürzter Entwicklung hätten wir das nicht erreicht. Damit wären
immer alle Tonwerte in ähnlicher Weise komprimiert worden.
Auch mit Vorbelichtung kann man zuviel des Guten tun. Eine übermäßige
Vorbelichtung, besonders wenn sie größere Flächen im Negativ
betrifft, kann eine unangenehm verschleierte Wirkung hervorrufen, da der Kontrast
in den Schatten ja reduziert ist. Ich würde daher immer dazu raten, probehalber
- mindestens bis Sie den Effekt beherrschen - eine Aufnahme ohne Vorbelichtung,
eine mit einer Vorbelichtung von -3 Blenden und zusätzlich eine mit -4
Blenden zu schießen. Suchen Sie nachher die Ihrem Geschmack am besten
entsprechende Aufnahme aus.
Für die an den Hintergründen interessierten Leser folgt ab hier die
Erklärung, warum das beschriebene Verfahren funktioniert. Wenn Sie nur
das Kochrezept haben wollten, dürfen Sie hier aufhören zu lesen.
Warum funktioniert's?
Stellen wir einmal gegenüber,
wie die Belichtung in den Schatten, den Mitteltönen und den Lichtern im
nicht vorbelichteten und im vorbelichteten Fall aussieht. Dabei geben wir die
Belichtung immer bezogen auf die der Mitteltöne an, einmal in Blendenstufen
und einmal als Bruchteil/Vielfaches, eingedenk der Tatsache, dass minus eine
Blende einer Halbierung, plus eine Blende einer Verdopplung entspricht.
Tabelle 1: Belichtung des nicht vorbelichteten Negativs
Tonwertbereich | Schatten | Mittelton | Lichter |
Belichtung in Blendenwerten bezogen auf Mittelton | -3 | 0 | +3 |
Belichtung als Bruchteil/Vielfaches der Mitteltonbelichtung | 1/8 | 1 | 8 |
Tabelle 2: Belichtung durch die Vorbelichtung
Tonwertbereich | Schatten | Mittelton | Lichter |
Belichtung in Blendenwerten bezogen auf Mittelton | -3 | -3 | -3 |
Belichtung als Bruchteil/Vielfaches der Mitteltonbelichtung | 1/8 | 1/8 | 1/8 |
Tabelle 3: Belichtung des vorbelichteten Negativs (Summe Tabellen 1+2)
Tonwertbereich | Schatten | Mittelton | Lichter |
Belichtung in Blendenwerten bezogen auf Mittelton | -2 | +1/8 | -3 |
Belichtung als Bruchteil/Vielfaches der Mitteltonbelichtung | 1/8+1/8= 1/4 |
1+1/8= 1 1/8 |
8+1/8= 8 1/8 |
Wenn wir jetzt die Änderung
der Belichtung durch die Vorbelichtung ins Verhältnis setzen zur Belichtung
ohne Vorbelichtung, sehen wird, dass durch die Vorbelichtung praktisch nur die
Schatten nennenswert beeinflusst wurden.
Tabelle 4: Änderung der Belichtung durch Vorbelichtung
Tonwertbereich | Schatten | Mittelton | Lichter |
Änderung Belichtung in Blendenwerten bezogen auf Belichtung ohne Vorbelichtung | +1 | +1/8 | +1/16 bis 1/32 |
Änderung der Belichtung in Prozent der Belichtung ohne Vorbelichtung | +100% | +12.5% | +4% |
Das verdeutlicht:
(1) Die tiefen Schatten werden erheblich, nämlich um eine ganze Blende
angehoben.
(2) Der Kontrast innerhalb der Schatten und zwischen Schatten und Mitteltönen
nimmt entsprechend ab.
(3) Den Mitteltönen passiert wenig mit einer Zugabe von einer Achtelblende.
(4) Den Lichtern passiert mit einer Zugabe von 1/16 bis 1/32 Blende praktisch
nichts.
(5) Der Kontrast innerhalb der Lichter und zwischen Mitteltönen und Lichtern
bleibt praktisch unverändert.
Einen ähnlichen Effekt erhält man übrigens auch mit einem schlechten,
weil streulichtanfälligen Objektiv. Ein solches führt zu vermindertem
Kontrast, vor allem in den Schatten. Die Begründung ist dieselbe wie bei
der Vorbelichtung, nur kommt man ohne Doppelbelichtung aus. Auch "schlechte"
Objektive haben also ihr Gutes. Wie Ansel Adams in "Das Negativ" ausführt,
ist der Nachteil bei einem solchen Objektiv nur der, dass man den Effekt nicht
so gut kalkulieren und steuern kann wie bei dem hier beschriebenen Verfahren.
Literaturhinweise
[1] Ansel Adams, Das Negativ, Christian Verlag, München 1982, ISBN 3-88472-071-6
(in meinen Augen die beste Erklärung)
[2] Andreas Weidner, Workshop Zonensystem, Verlag Photographie, CH-Schaffhausen
1994, ISBN 3-7231-0041-4 (gute Erklärung, vermutlich basierend auf [1])
[3] Thomas Maschke, Faszination der Schwarzweiß-Fotografie: Technik, Themen
und Motive, Augustus Verlag, 5. Auflage, Augsburg 1996, ISBN 3-8043-5046-1 (Erklärung
fast gleichlautend mit [2])
[4] Peter Fischer-Piel, Das Zonensystem in der Schwarzweiß- und Farbfotografie,
ikoo Buchverlag, Berlin 1986, ISBN 3-88677-929-7 (Erklärung nicht ganz
so klar)
[5] Roger W. Hicks, Frances E. Schultz, Perfect Exposure - From Theory to Practice,
David and Charles, UK, 1999, ISBN 0-7153-0814-9 (keine direkte Erklärung
der Vorbelichtung von Negativen, aber der allgemeinen Möglichkeiten, Kontraste
im Positiv wiederzugeben sowie des Effektes von Streulicht im Objektiv)